Üppige Liquidität gefährdet die Unabhängigkeit der EZB

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In den vergangenen 15 Jahren hat die EZB, wie andere Zentralbanken auch, ihren Handlungsrahmen geändert.

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Die politische Ausrichtung der Europäischen Zentralbank (EZB) – eine allmähliche, aber schnelle Serie von Zinserhöhungen zur Eindämmung der Inflation – ist nun klar. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte Ende vergangenen Jahres gesagt, dass die Situation „eine weitere Zinserhöhung um 50 Basispunkte auf unserer nächsten Sitzung und möglicherweise auf der übernächsten Sitzung und möglicherweise auch danach nahelegt“. Klaas Knot, Präsident der niederländischen Zentralbank und ein einflussreiches Mitglied des EZB-Rats, erklärte, dass die Zinserhöhungen nun „am Anfang der zweiten Hälfte“ stehen, nachdem die Zinsen von Juli bis Dezember 2022 um 2,5 Prozentpunkte angehoben wurden.

Eine bisher kaum diskutierte Frage ist, wie dies geschehen soll. Oberflächlich betrachtet befinden wir uns hier auf einem Nebenschauplatz, aber in Wirklichkeit sind damit große Probleme verbunden. Die Folgen könnten später auf die Zentralbank zurückfallen und zwar dort, wo es am meisten weh tut: bei ihrer Unabhängigkeit.

In den vergangenen 15 Jahren hat die EZB, wie andere Zentralbanken auch, ihren Handlungsrahmen geändert. Vor 2008 war es üblich, das Bankensystem mit zu wenig Liquidität zu versorgen und diese durch häufige Rückkaufgeschäfte zu refinanzieren. Nach der Finanzkrise führten die groß angelegten Ankäufe von Vermögenswerten (quantitative Lockerung) zu einem chronischen Überschuss an Bankenliquidität.

Im Zuge der Corona-Pandemie lief die quantitative Lockerung wieder auf Hochtouren: Die Liquidität, die vor der Krise praktisch bei null lag, beläuft sich nun auf etwa 4 Bill. Euro, was etwa 30 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Euroraums entspricht. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel für das, was der Wirtschaftsausschuss des britischen Oberhauses im Jahr 2021 als „Ratchet-up-Effekt“ bezeichnete: Die quantitative Lockerung steigt mit jedem negativen Schock an, wird aber anschließend nicht zurückgenommen. Der Bericht des Ausschusses stellt auch fest, dass die positiven Auswirkungen der quantitativen Lockerung über die kurze Frist hinaus fraglicher sind, als die Zentralbanken zunächst angenommen haben.

Ignazio Angeloni ist SAFE Senior Fellow und früheres Mitglied des EZB-Aufsichtsrats.

Es gibt zwei Ansätze, um den angehäuften monetären Überhang abzubauen, sobald die Zinssätze zu steigen beginnen. Die eine Option besteht darin, die quantitative Lockerung rückgängig zu machen und die zuvor erworbenen Anleihen zu verkaufen oder sie bei Fälligkeit nicht zu erneuern, bis der Überhang wieder abgebaut ist. Die andere besteht darin, die reichlich vorhandene Liquidität im Bankensystem zu belassen und die Marktzinsen durch eine Anhebung der Zinsen für die Einlagefazilität der EZB anzuheben.

Beide Ansätze sind wirksam mit Blick auf die Steuerung der Zinssätze, aber beim zweiten Ansatz behält die Zentralbank dauerhaft ein großes Portfolio an Staatsanleihen in ihrer Bilanz. Die quantitative Lockerung, die einst als „unkonventionelle“ Maßnahme zur Bewältigung von Notfällen galt, wird zur Norm in dem Sinne, dass ihre Folgen dauerhaft sind.

Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass die EZB den zweiten Weg einschlagen wird. Seit Juli 2022 wurde der Einlagensatz im Einklang mit den anderen Zinssätzen angehoben. Ein moderater Abbau des Anleiheportfolios (15 Mrd. Euro pro Monat) wird voraussichtlich im März beginnen, aber ein hoher Einlagensatz (derzeit 2 % mit steigender Tendenz), der risikolos ist, hält die Banken davon ab, Staatsanleihen zu erwerben, die alle in unterschiedlichem Maße riskant sind.

Bereits 2019 kündigte die US-Notenbank Fed an, dass sie weiterhin mit einem großzügigen Liquiditätsrahmen arbeiten will. Die EZB könnte versucht sein, ihrem Beispiel zu folgen. Ein Argument für diese Entscheidung war, dass die Entkopplung der Liquidität von den Zinssätzen zur Verringerung der Risiken für die Finanzstabilität beiträgt. Als allgemeines Argument ist dies jedoch nicht überzeugend. Eine Zentralbank sollte immer bereit sein, die Liquidität in einer Krise auszuweiten, und sie sollte auch über die entsprechenden Ins­trumente und Befugnisse verfügen. Aber nirgendwo wird verlangt, dass jederzeit ein großes Liquiditätsvolumen vorgehalten wird. Im Falle der EZB wiegt das Argument aus drei Gründen schwer.

Erstens handelt die EZB im institutionellen Rahmen des Euroraums weitgehend allein, ohne Unterstützung durch einen zentralisierten Haushalt oder andere politische Instrumente auf Bundesebene. Dies fördert in politischen und öffentlichen Meinungskreisen den irreführenden Eindruck, dass die Zentralbank mit jedem Problem und Schock fertig werden kann und sollte. Wenn die EZB sich selbst und andere davon überzeugt, dass die Geldpolitik mit einem beliebigen Maß an Liquidität und öffentlichen Wertpapierbeständen ebenso gut durchgeführt werden kann, kann der Druck, Regierungen bei jeder plausiblen Gelegenheit und ohne Ausstiegsstrategie zu finanzieren, unwiderstehlich werden. An diesem Punkt geht die Unabhängigkeit verloren und damit auch ein wichtiges geldpolitisches Gegengewicht zur fiskalischen Macht der Nationalstaaten.

Vorsicht, Falle!

Der zweite Unterschied besteht darin, dass der Euro einem einzigartigen Risiko ausgesetzt ist, das mit der Fragilität der Finanzpolitik einiger seiner Mitglieder zusammenhängt – der Fragmentierung. Die Verpflichtung des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, „alles zu tun, was nötig ist“, um die Währung zu retten, hat dies zu einer impliziten Verantwortung der EZB gemacht. Im Jahr 2012 ging diese Wette voll auf – der Euro wurde ohne unmittelbare Kosten gerettet –, aber es ist unwahrscheinlich, dass sich dieses Ergebnis wiederholen wird. Jede potenzielle künftige Fragmentierung birgt die Gefahr, dass die Zentralbank in eine Verpflichtungsfalle gerät, die eine immer stärkere Monetarisierung der Staatsdefizite erfordert.

Schließlich deuten drittens langfristige Daten darauf hin, dass das Potenzialwachstum im Euroraum weniger dynamisch ist als in den USA. Die von der Europäischen Union eingeleiteten Reform- und Investitionsprogramme könnten dies ändern, aber solange dies nicht geschieht, werden die Forderungen an die Zentralbank, die Nachfrage zu stimulieren – auch durch die quantitative Lockerung, trotz der Zweifel an deren Wirksamkeit –, wahrscheinlich weiter bestehen.

Die EZB wird ihrer Verantwortung in dem komplexen Umfeld, in dem sie sich befindet, nur gerecht werden können, wenn sie die Kontrolle über ihre Bilanz behält. Dies erfordert nun, dass sie den derzeit geplanten Zinsstraffungszyklus mit einer deutlichen Verringerung ihrer öffentlichen Wertpapierbestände kombiniert, den Einlagensatz so bald wie möglich von den Marktsätzen abkoppelt und zu einem „begrenzten Liquiditätsrahmen“ zurückkehrt. Nach der jüngsten Klarstellung ihrer Zinsabsichten ist dies die nächste Front, an der die EZB ihre Entschlossenheit unter Beweis stellen sollte.

Das Schreckgespenst der Fragmentierung sucht die EZB wieder heim

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Das wiedererwachte Interesse an der Geldpolitik ist mit neuen Problemen und Risiken für die Zentralbanken verbunden. Wie geht man mit der Pandemie um, insbesondere mit dem Ausstieg? Lässt sich die steigende Inflation kontrollieren? Sollte man Kriegsrisiken einkalkulieren? Unschlüssig, wie sie vorgehen sollen, werden die Zentralbanker und Zentralbankerinnen in Kontroversen hineingezogen, die ihrer Führungsrolle und ihrem Ansehen schaden könnten.

Und doch sollten diese Probleme nicht allzu schwer zu bewältigen sein. Zumindest nicht für Zentralbanken mit klar vorgegebenen Zielen – wie sie alle Zentralbanken jetzt haben – und ausreichender Entschlossenheit.

Die Fed hat sich bewegt

Der Fall der USA gestaltet sich relativ einfach. Die US-Wirtschaft wurde von zwei Schocks getroffen: einer mit gemischten Auswirkungen auf Angebot und Nachfrage, die Pandemie; der andere mit reinen Nachfrageeffekten, die fiskalische Expansion unter US-Präsident Joe Biden. Die offensichtliche Antwort war eine rigide Geldpolitik. Nach einigen Verzögerungen bei der Anerkennung dieser Wirklichkeit hat die US-Notenbank Fed unter Jerome Powell diesen Weg nun deutlich eingeschlagen. Die Situation der Europäischen Zentralbank (EZB) ist vergleichsweise schwieriger. Zunächst einmal gab es in der Eurozone keinen fiskalischen Schock: Der Wiederaufbaufonds “Next Generation EU”, Europas Antwort auf die Coronakrise, muss seine volle Wirkung erst noch entfalten. Zudem war die steigende Inflation während der Pandemie ausschließlich auf Angebotsengpässe zurückzuführen. In der Annahme, dass diese Engpässe vorübergehend sind, hat die EZB nach einem ersten großen Schritt im Jahr 2020 mit ihrem Pandemie-Notfallankaufprogramm (“Pandemic Emergency Purchase Programme”, PEPP) dann eine abwartende Haltung an den Tag gelegt.

Leider hat sich die EZB nach einem durchaus sinnvollen Auftakt zwei Fehler geleistet, für die sie nun die Quittung erhält.

Der erste Fehler bestand darin, ihre grundsätzlich taktische Haltung in einer “Strategie” zu verankern, die – von den Details abgesehen – im Wesentlichen vorschrieb, so lange abzuwarten, bis eindeutige und aktuelle Inflationsanzeichen zu erkennen waren. Dies war aus zwei Gründen falsch. Erstens, weil der geldpolitische Kurs bereits aus dem Gleichgewicht geraten war und negative Zinssätze in Ermangelung von Deflationsrisiken nicht gerechtfertigt waren. Der zweite Grund war, dass die besonderen Unwägbarkeiten, die mit der Entwicklung der Pandemie verbunden waren, die Aufrechterhaltung von Flexibilität erforderten, um auf alle unvorhergesehenen Ereignisse reagieren zu können, einschließlich eines unerwartet schnellen Ausstiegs. Eine in Stein gemeißelte abwartende Haltung erschwerte dies.

Taktik des Abwartens

Die perfekte Gelegenheit, die Situation zu bereinigen, bot sich Ende 2021, als das Wachstum in der Eurozone stärker ausfiel als erwartet und sich erste Anzeichen eines breit angelegten Preisanstiegs abzeichneten. Zu diesem Zeitpunkt waren negative Zinssätze mehr denn je fehl am Platz und eine Korrektur erforderlich. Dann trat der zweite und damit verbundene Fehler ein: Indem man an der Taktik des Abwartens festhielt, wurde diese Gelegenheit verpasst. Das eigentliche Problem der EZB besteht darin, dass eine Abschwächung des expansiven Kurses zu einer erneuten Fragmentierung der Eurozone führen könnte. Das “Monster”, das den Politikern und Politikerinnen während der Krise von 2010 bis 2012 den Schlaf raubte, macht sich wieder bemerkbar, wobei der Spread für italienische Staatsanleihen inzwischen auf 200 Basispunkte gestiegen ist – also auf das Niveau von Anfang 2011. Dem existenziellen Risiko für den Euro, das die Fragmentierung der Eurozone mit sich bringt, ist entschlossen entgegenzutreten, um nicht die gesamte Geldpolitik zu Fall zu bringen.

Wie EZB-Präsidentin Christine Lagarde in ihrem Blogbeitrag vom 23. Mai betonte, bedeuten unveränderte Zinssätze bei steigender Inflation, sowohl der tatsächlichen als auch der erwarteten, eine weitere und unangemessene Ausweitung des geldpolitischen Kurses. Da die EZB daher mit der dringenden Anhebung ihres Leitzinses aus dem negativen Niveau fortfährt, sollte sie jedoch Flexibilität und “konstruktive” Ambivalenz bei ihren Wertpapiermarktkäufen bewahren.

Es hat sich gezeigt, dass dieses Instrument gut gegen eine Fragmentierung wirkt. Die Käufe müssen nicht zwangsläufig stattfinden, um wirksam zu sein; die bloße Möglichkeit, dass sie stattfinden könnten, schafft auf dem Anleihemarkt die Art von wechselseitigem Risiko, das die Händler vorsichtig werden lässt. Der traditionelle “Sequenzierungsansatz”, der von der EZB grundsätzlich verlangt, die Anleihekäufe einzustellen, bevor sie die Zinsen anhebt, muss aufgegeben werden.

Die Folgen der EZB-Politik

Wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel sagte, ist die Fragmentierung eine Einschränkung, sollte aber nicht das gesamte Mandat der EZB überlagern. Es handelt sich um ein technisches Problem – weil es die Wirkung der Geldpolitik beeinträchtigt – mit weitreichenden politischen Auswirkungen. Die Zentral- bank hat mit ihrer unübertroffenen Fähigkeit zur Marktintervention beträchtliche Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Kurz vor ihrem 24. Geburtstag und angesichts ihrer Erfahrung und ihres guten Rufs ist es an der Zeit, dass die EZB dieses Problem engagierter angeht.

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Ein erster Schritt zu einer neuen Finanzlandschaft

Börsen-Zeitung – English version: A first step to a new financial landscape

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Der lateinische Philosoph Seneca, nicht gerade als Optimist bekannt, schrieb seinerzeit, dass aus Schlechtem Gutes entstehen kann. Hoffen wir, dass dies auf die BaFin zutrifft, deren Ruf durch das Wirecard-Desaster zerstört worden ist. 

Die Reform der BaFin ist für Europa genauso wichtig wie für Deutschland. Die Neuaufstellung der Behörde sollte daher als Vorstufe zur Stärkung der Marktregulierung und Governance in der gesamten EU gesehen werden – in einer Zeit, in der der Brexit mehr Verantwortung auf die Schultern der kontinentalen Finanzregulierer legt. Die künftige europäische Marktaufsicht – sei es eine erweiterte ESMA oder eine ganz neue Institution – braucht eine starke und angesehene deutsche Behörde als Mitglied.

Die Führung der BaFin ist zurückgetreten und ein neuer Präsident wurde gerade bekannt gegeben. Der Bundestag befasst sich nun mit einem Gesetzentwurf, der die Prozesse der Unternehmensprüfung verändern, die Rolle der Prüfstelle für Rechnungslegung abschaffen und die Befugnisse der Aufsichtsbehörde stärken würde. Diese Änderungen sind sinnvoll, aber ihr enger Fokus auf Rechnungslegung, Prüfung und Ermittlungsbefugnisse greift zu kurz. Die Gelegenheit, aus allen Lehren der Wirecard-Affäre zu lernen, wird möglicherweise verpasst.

Trotz seiner Komplexität ist der Kern des Skandals einfach. Jahrelang nährten Marktgerüchte und Medienberichte den Verdacht, dass Wirecard seine Bilanzen manipulierte. Keine Aufsichtsbehörde sollte nur aufgrund von Gerüchten handeln, aber diese Signale hätten an zwei Fronten zum Handeln führen müssen. Erstens, um die Marktintegrität vor unbewiesenem und potenziell störendem Hörensagen zu schützen. Zweitens, um ohne den Schatten eines Zweifels zu klären, ob diese Gerüchte irgendeine Substanz hatten. Sollten die Befugnisse der Behörde dazu nicht ausreichen, sollte sie sichtbare Signale an andere relevante Behörden senden. Die BaFin bewegte sich nur an der ersten Front; sie ging sogar so weit, die zweite zu untergraben, indem sie rechtliche Schritte gegen die Financial Times einleitete und damit möglicherweise andere Informationsquellen behinderte. Es gab eine Voreingenommenheit in ihrem Urteil, die vielleicht in der Kultur der Organisation verwurzelt ist.

Als sich das Ausmaß des Problems abzeichnete, kamen einige deutsche Banken den Beschuldigten zu Hilfe, indem sie Kreditlinien anboten und günstige Börsentipps gaben, die die Gerüchte auf von Spekulanten verbreitete Falschinformationen zurückführten. Der Ruf des Bankwesens und die Stabilität dieser zum Teil selbst schon geschwächten Banken waren gefährdet.

Das Problem ist, dass die BaFin sowohl die Stabilität der Banken als auch die Integrität des Finanzmarktes überwacht. Dies ist eine Seltenheit. In der Eurozone gibt es nur in wenigen, kleinen Ländern eine Kombination dieser Aufgaben. In Deutschland sind die Banken in erheblichem Umfang am Unternehmenssektor beteiligt, und es gibt keine ausreichenden Schutzmechanismen gegen das Risiko, dass die Banken ihre eigene Stabilität untergraben, um Zombie-Unternehmen zu stützen, an denen sie beteiligt sind. Die gemeinsame Verantwortung der Aufsichtsbehörden führt zu einem Interessenkonflikt zwischen der Aufrechterhaltung der Marktintegrität und der Stabilität der Banken.

Die BaFin argumentierte, dass Wirecard ein Fintech sei, also ein Geschäft, dass sich ihrer Zuständigkeit entziehe, und dass die Unternehmenstochter Wirecard Bank aufsichtsrechtlich solide sei. Dies ist aber nicht der Fall. Die BaFin ist auch eine Marktaufsichtsbehörde, die für börsennotierte Unternehmen zuständig ist. Zudem wurden die weitreichenden Folgen der Affäre stark unterschätzt. Angesichts ihrer zentralen Rolle als deutsche Aufsichtsbehörde konnte die BaFin ihr Mandat nicht eng auslegen oder ignorieren, was jenseits ihres Zuständigkeitsbereichs geschah. Die aufsichtliche Engstirnigkeit ist nicht nur ein deutsches Problem; eine allzu kleinliche, risikoscheue Mentalität lässt Behörden oft zögern, einzugreifen, wenn ihre Verpflichtung dazu nicht absolut sicher ist. In Deutschland und anderswo sollte versucht werden, eine solche Tendenz zur Untätigkeit zu korrigieren.

Diese Überlegungen liefern Anhaltspunkte dafür, wie die Lehren aus Wirecard zu lesen sind und welche Reformen notwendig sind. Das kulturelle Problem sollte durch eine Kombination aus Klarheit im Mandat der Aufsichtsbehörde und der Einstellung von Personal – beginnend mit dem Führungsteam – mit entsprechendem fachlichem Hintergrund angegangen werden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Transparenz und Integrität auf allen Ebenen liegen sollte. Die Stärkung der Unabhängigkeit der Institution von der Politik ist wichtig, aber nicht ausreichend. Sie kann sogar nachteilig sein, wenn sich die Kultur der Institution nicht ändert. 

Das Risiko, das sich aus dem Interessenkonflikt zwischen Bankenstabilität und Marktintegrität ergibt, kann nur durch eine klare Abgrenzung der beiden Zuständigkeiten behoben werden; vorzugsweise, indem sie in getrennten Behörden angesiedelt werden. Nach der Finanzkrise von 2007/2008 begannen die Zentralbanken, eine wichtigere Rolle als Bankenaufseher zu spielen. So ist beispielsweise die EZB auch eine Bankenaufsichtsbehörde. Anfängliche Befürchtungen, dass es zu Konflikten zwischen diesen Rollen kommen könnte, haben sich bisher nicht bewahrheitet. Die Rolle der Bundesbank als Aufseherin kann also ausgebaut werden. Die Risiken sind dabei geringer als bei einer Beibehaltung der unscharfen Trennung zwischen Banken- und Marktaufsicht.

Im Interesse von ganz Europa: Es lebe eine starke und seriöse BaFin. Ihre Mandate, ihre Kultur, ihre Rechenschaftspflicht und ihre Unabhängigkeit sollten gründlich überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass die Aufsichtsbehörde nie wieder den Blick für das große Ganze verliert und die Verantwortung dafür übernimmt.


A first step to a new financial landscape

Seneca, the Latin philosopher not known to be an optimist, wrote that good may come from bad. Let’s hope that this will be the case for BaFin, whose reputation has been destroyed by the Wirecard disaster. 

Reforming BaFin is as important for Europe as it is for Germany. Its reform should thus be seen as preliminary steps to boost market regulation and governance in the entire EU, at a time in which Brexit puts more responsibility on the shoulders of continental financial regulators. The future European market supervisor – be it an expanded ESMA or a new institution entirely – needs a strong and reputable German agency in its membership.

BaFin’s leadership has resigned and a new President has just been announced. The Bundestag is now considering a bill which would change corporate auditing processes, eliminate the role of the financial reporting enforcement panel and strengthen the supervisor’s powers. These changes are useful, but their narrow focus on accounting, auditing and investigatory powers falls short of what is needed. The opportunity to learn from all the lessons of the Wirecard affair may be missed.

In spite of its complexities, the crux of the scandal is simple. For years, market rumours and press articles advanced the suspicion that Wirecard was manipulating its accounts. No supervisor should act on rumours only, but those signals should have prompted action on two fronts. First, to protect market integrity from unproven and potentially disruptive hearsay. Second, to clarify without a shadow of doubt if those rumours had any substance. If the agency’s powers were deemed insufficient to do so, it should send visible signals to other relevant authorities. BaFin moved only on the first front; it even went so far as to undermine the second by taking legal action against the Financial Times, potentially inhibiting other sources of information. There was a bias in its judgement, perhaps rooted in the culture of the organisation.

As the scale of the problem was becoming apparent, some German banks came to the rescue of the accused, by offering lines of credit and offering favourable stock market advice which attributed the rumours to false information spread by speculators. The reputation of the banking establishment and stability of those banks, some already already week in and of themselves, were put at risk.

The problem is that BaFin supervises both the stability of the banks and the integrity of the financial market. This is rare. In the euro area, only in a few, small countries are those responsibilities combined. In Germany, banks have sizeable stakes in the corporate sector and no sufficient firewalls exist to alleviate risks that banks undermine their own stability to prop up zombie firms they have a stake in. The joint responsibilities of the supervisor give rise to a conflict of interest between maintaining market integrity and bank stability.

BaFin argued that Wirecard was a fintech, a business on which it had no authority, and that its banking subsidiary, Wirecard Bank, was prudentially sound. This is beside the point. BaFin is also a market supervisor, with responsibility over listed companies. Moreover, the broader ramifications of the affair were greatly underappreciated. Given its central role as German supervisor, BaFin could not interpret its mandate narrowly or disregard what happened just beyond the perimeter of its authority. Supervisory narrow mindedness is not a German problem only; a legalistic, risk-averse mindset often makes authorities reluctant to intervene unless their obligation to do so is absolutely certain. In Germany and elsewhere supervisory mandates should endeavour to correct such inaction bias.

These considerations provide clues to how the lessons of Wirecard need to be read and what reforms are necessary. The cultural problem should be addressed by a combination of clarity in the supervisor’s mandate and hiring people – starting with the management team – having an appropriate professional background, with a special emphasis on transparency and integrity at all levels. Strengthening the institution’s independence from politics is important, but not sufficient. It may even be detrimental, if the culture of the institution does not change. 

The risk stemming from conflict of interest between banking stability and market integrity can only be corrected by clearly demarcating the two responsibilities; preferably, by investing them in separate authorities. After the great financial crisis, central banks began playing a more important role as banking supervisors. For example, the ECB is a banking supervisor as well. Initial concerns that there would be conflicts between these roles have, so far, not been born out. The Bundesbank’s role as supervisor can therefore be expanded. The risks of doing so are smaller than those of maintaining a blurred distinction between the banking and market supervisor.

In the interest of all of Europe, long live a strong and reputable BaFin. Its mandates, culture, accountability, independence should be redesigned thoroughly, to ensure that never again does the supervisor fail to see the bigger picture and take responsibility for it.

Eine europäische Bankencharta als Motor der Bankenunion

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Im Jahr 2012 hat die Europäische Union die Bankenunion ins Leben gerufen und damit zwei Ziele verfolgt. Erstens Europas Banken solide und widerstandsfä hig zu machen, um eine neue Finanz krise zu verhindern. Zweitens einen europäischen Bankensektor aufzubauen, einschließlich einiger weniger paneuropäischer Banken, die in der Lage sind, auf globaler Ebene zu konkurrieren. Mit Blick auf das erste Gründungsziel war die Bankenunion erfolgreich: Im Wesentlichen sind die Banken heute solider und stabiler als zuvor. Banken auf die richtige Bahn zu bringen, ist jedoch die Aufgabe aller und nicht nur der europäischen Aufseher. 

National wie eh und je

Indessen ist die Bankenunion mit Blick auf das zweite Gründungsziel aufgrund einer fehlenden gesamteuropäischen Herangehensweise bisher gescheitert. Acht Jahre nach offizieller Gründung der Bankenunion sind die Kreditinstitute in der Eurozone so national wie eh und je, wenn nicht noch mehr. Relevante grenzüberschreitende Zusammenschlüsse gab es bisher nicht. Banken mit globalen Ambitionen wenden sich nach innen und trennen sich von Auslandsgeschäften, zur Erleichterung heimischer Politiker. Europäische Banken haben globale Marktanteile in Schlüsselbereichen wie im Investment Banking verloren und ihre Marktbewertung ist im internationalen Vergleich gesunken.

Nach wie vor gibt es jedoch gute Gründe für grenzüberschreitende Joint Ventures zwischen Banken im Euroraum. Synergien können zum Beispiel entstehen, wenn Banken mit großen Vertriebsnetzen und solche, die einen Vorsprung bei der Entwicklung innovativer Finanzinstrumente haben, fusionieren. Die ungleichmäßige Entwicklung der Wirtschaft im Euroraum verspricht immer noch Vorteile durch geografische Diversifizierung. Zudem erfordert die digitale Transformation große Investitionen, die sich nur große Banken leisten können.

Die Hindernisse sind regulatorischer Natur. Zwar wurde eine Euro-Bankenaufsicht geschaffen, nur sind die Barrieren, die grenzüberschreitende Aktivitäten unattraktiv machen, immer noch vorhanden. Banken, die ausländische Tochtergesellschaften erwerben oder neu gründen, sind mit hohen makroprudenziellen Anforderungen konfrontiert, da grenzüberschreitende Beteiligungen immer noch als Auslandsgeschäfte behandelt werden, obwohl sie unter demselben aufsichtsrechtlichen und gesetzlichen Dach stehen. Das Gesetz verbietet interne grenzüberschreitende Kapitalbewegungen. Nationales Ringfencing steht effizientem Liquiditätsmanagement im Weg. Kreditratings vergrößern die Hürden zusätzlich, da Tochtergesellschaften benachteiligt werden, wenn die Muttergesellschaft in einem Land mit niedrigerer Bonität ansässig ist.

Es ist unwahrscheinlich, dass grenzüberschreitende Barrieren in absehbarer Zeit verschwinden. In Abwesenheit einer gemeinsamen Einlagensicherung werden die Euro-Länder eine starke Kontrolle über ihren jeweiligen Bankensektor behalten. Ein Streit darüber, wie mit Forderungen an Staaten in den Bankbüchern umzugehen ist, blockiert die Einigung. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit für weitreichende, regulatorische Änderungen, die die Bankenunion als Ganzes betreffen. Nicht alle Banken streben danach, gesamteuropäische oder globale Akteure zu werden. Für die wenigen, die das wollen, ist eine maßgeschneiderte Regelung vielleicht die einfachste Lösung.

Gesetzliche Nische schaffen

Eine mögliche Regelung würde eine europäische Verordnung nutzen, um eine gesetzliche Nische für Banken zu schaffen, die kritische Werte mit Blick auf Größe und grenzüberschreitende Diversifizierung erreichen oder als Ergebnis einer Fusion erreichen wollen. Banken, die sich erfolgreich um den Pan-Europa-Status bewerben, hätten sowohl Privilegien als auch Pflichten. Sie müssten alle von der EZB festgeleg-ten (mikround makroprudenziellen) Kapitalanforderungen auf Gruppenebene erfüllen. Die Gruppe würde innerhalb der Bankenunion einer “SinglePoint-of-Entry-Struktur” folgen, wobei Verluste an die Hauptgesellschaft weitergereicht würden.

Die Haftungsstruktur der Hauptgesellschaft würde alle Anforderungen an die Verlustabsorption erfüllen, die von der einheitlichen Abwicklungsbehörde (Single Resolution Board, SRB) in Übereinstimmung mit den globalen Standards festgelegt wurden. Die Rechte und Pflichten zur Verlustabsorption über Grenzen hinweg würden durch direkt anwendbares europäisches Recht festgelegt. Dedizierte Einlagensicherungsund Abwicklungssysteme würden ausgegliedert, vom SRB verwaltet und durch den europäischen Haushalt abgesichert werden. Infolgedessen wären Kreditratings länderunabhängig. Für gesamteuropäische Bankengruppen würden makroprudenzielle Anforderungen gelten, die sich an der Bankenunion als der maßgeblichen und einzigen Jurisdiktion richten. Es wäre ihnen erlaubt, Kapital und Liquidität innerhalb der Gruppe zu verschieben, vorbehaltlich der Prüfung durch die Aufsichtsbehörde. Vorzugsweise würden ihre Vermögenswerte einem harmonisierten, flächendeckenden Insolvenzverfahren unterworfen. Diese Regelung würde die Bankenunion vervollständigen, nicht untergraben. Europäische Richtlinien und Verordnungen würden weiterhin den Rahmen für eine weitere Bankenharmonisierung bilden. Die Euro-Bankenaufsicht unter der EZB würde weiterhin zu einem soliden Bankensektor beitragen, der auf gemeinsamen und transparenten Aufsichtspraktiken basiert. In einem solchen Umfeld könnten mittelgroße Banken, die weiter wachsen wollen, leichter den letzten Schritt gehen und eine Mitgliedschaft im paneuropäischen “Club” beantragen.

Nicht alle Banken wollen gesamteuropäische Akteure werden. Für jene, die das wollen, wäre eine maßgeschneiderte Regelung die einfachste Lösung.

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